Mittwoch, 17. Mai 2017


 Nachlese 5.5.2017: Die Lebenskraft         Christian Brehmer      

Die Lebenskraft manifestiert sich ganz unterschiedlich, wiewohl sie selbst eins und  für den Menschen verborgen ist. Poetisch ausgedrückt:
                     "So erhabene Inelligenz wirkt wohl im Geheimen,
                                                          ihr unverseller Künstlergeist malt das Relative."
Die unterschiedlichen Varianten der Lebenskraft waren Gegenstand unserer Dialogrunde. Im obigen Zitat wird sie als Evolutions- und Schöpfungsdynamik schlechthin verstanden. Denn irgendeine Kraft muss ja die Materie zur Selbstorganisation "animieren" (1), muss sie zur Höherentwicklung antreiben (2) und zu neuen Kreationen und Ausdruck von Schönheit veranlassen (3). Die Naturwissenschaft reduziert die Lebenskraft auf eine Eigenschaft der Materie. Alles lässt sich aus der Materie ableiten (Monismus).
    Die den Kosmos durchwaltende Intelligenz ist bereits unmittelbar nach dem Urknall erkennbar. Kurz darauf, für den Bruchteil einer Sekunde, in der "Planck-Zeit", hatten die bekannten physikalischen Gesetze noch keine Gültigkeit. Aber dann kommt es zur Regie der "Fundamentalkonstanten" (Gravitation, Elektromagnetismus, starke und schwache Kernkraft), die so fein aufeinander abgestimmt sind, dass sie Evolution ermöglichen. Würde man an ihrem Verhältnis zu einander nur geringfügig etwas verändern, käme es zu keiner geordneten Strukturbildung im Kosmos =  griech. Ordnung. 
  In der Diskussion wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Materie an sich dem Zerfall, der "Entropie", unterliegt. Zu beobachten ist jedoch in der Natur genau die gegenläufige Tendenz: allenhalben Wachstum, Komplexität, Höherentwicklung,  Schönheit und Intensivierung des Bewusstseins. Der Schweizer Biologe Adolf Portmann spricht vom "Darstellungstrieb" der Organismen, der weit über den Selbsterhaltungstrieb hinausgeht.
    Außer der naturphilosophischen Betrachtung der Lebenskraft als Evolutionsdynamik interessierte uns die Lebenskraft als spürbares Phänomen im Menschen. Bin ich ermüdet, ist die Lebenskraft erschöpft. Oder wie verhält es sich mit der Aggression? Ist sie ein Überschuss an Lebenskraft? Wohl eher ist sie eine kurzfristige Provozierung, oftmals emotional gesteuert. Besser wäre eine der Situation angemessene Steuerung durch Überblick. Überblick aber ist eine Funktion des Bewusstseins. Und das lässt sich erweitern. Dazu dient u.a. die philosophische Entspannungsreise zu Beginn unserer Philrunde.  

Vorschau 2.6.2017: "Mich packt der Zorn"
Auszüge aus einem Interview zwischen der Redaktion von "Christ und Welt" und Heiner Geißler
 vom  31.3.´17                                                                                                 Zusammgestellt von Klaus Burghardt

Heiner Geißler*:
„Mich packt der heilige Zorn, wenn ich an die offizielle evangelische und katholische Theologie denke.
...
Ich habe mit den Jahren angefangen, an Gott zu zweifeln, habe nach der Wahrheit gesucht. Dabei ist mir meine
religiöse Heimat immer mehr abhandengekommen. Aber ich kann sie behalten, weil ich die Verfälschung des
Evangeliums durch die Theologie erkannt habe.
... Millionen Menschen können das jetzige Leben nur in der Hoffnung auf ein besseres Leben ertragen. Damit die
christliche Religion aber nicht zum jede Revolution erstickenden Opium des Karl Marx wird, müssen die Kirchen
an der Seite der hungernden, armen Menschen stehen.
...
In jeder Sekunde werden auf der Welt Tausende von Menschen getötet, gefoltert und vergewaltigt. Wenn die
Schreie dieser Menschen auf einmal zu hören wären, dann wäre dieser Schrei so furchtbar, dass er alles Leben
auslöschen würde. Das geschieht jede Minute seit Tausenden von Jahren. Warum versteckt sich Gott? Und was
machen die Kirchen? Sie beten den Psalm 118, sie frohlocken, sie loben Gott. Das ist absurd.
...
Gott will von den Menschen geliebt werden und hat ihnen dafür den freien Willen gegeben. Was ist das für ein
Gott, der in Kauf nimmt, dass es Auschwitz und Pol Pot gibt, damit er geliebt werden kann?
...
Ich kann Jesus nicht fahren lassen. Wir wissen, dass er gelebt hat und welche Botschaft er hatte. Wegen ihm
verzweifle ich nicht trotz meiner Gotteszweifel. Jesus hat die größte Volksbewegung der Menschen in Gang
gebracht und die beste, glänzendste und revolutionärste Botschaft der Welt verkündet: die Pflicht zur Solidarität
unter den Menschen. Er hat ihr denselben Rang gegeben wie der Liebe zu Gott.
...
Zwei Milliarden Christen könnten die Welt verändern, wenn die entsprechende geistige Führung da wäre. Doch
die katholische Kirche kann sich noch nicht einmal auf ein gemeinsames Abendmahl einigen.
...
Die Kirchen müssten Widerstand leisten gegen die Mächtigen dieser Erde. In der Welt des Kapitalismus, der
Investmentbanker, einer gigantischen Finanzindustrie mit ihren gesellschaftlichen Leitbildern Egoismus, Gier,
Geiz, Erfolg, Dividende, Konsum, Rang und Titel ist Jesus eine totale Provokation und die Verkörperung von
Menschlichkeit und Barmherzigkeit. Den Menschen zu helfen geht nur mit Streit, Auseinandersetzung, Kampf.
Stattdessen preisen die Kirchen Gott und blasen die Posaune von den Türmen ihrer leeren Kirchen.
... Wir können daran arbeiten – Vorbild Jesus –, das Leid zu verringern und den Pfusch, der in der sogenannten
Schöpfung steckt, zu beseitigen. Und vielleicht ist das, woran man zweifelt, trotzdem wahr.“

Dies sind Auszüge aus einem Interview vom 31.3.17: http://www.zeit.de/2017/14/heiner-geissler-glauben-alterinterview/
komplettansicht
Die Streitschrift "Kann man noch Christ sein, wenn man an Gott zweifeln muss?" von Heiner Geißler ist im März
im Ullstein Verlag erschienen.
* Der ehemalige Bundesminister Heiner Geißler, geboren 1930, war 25 Jahre lang Mitglied des Deutschen
Bundestages und Schlichter von Stuttgart 21. Er ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem von Sapere aude!
und Was müsste Luther heute sagen?



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