Freitag, 19. April 2013



Nachlese vom 5.4.2013                                                       Text: Christian Brehmer

Suche nach Erkenntnis
Nach dem Gemeinschafts-stiftenden Vorspann gab es eine kurze Rückbesinnung auf das Thema unserer letzten Runde: „Hat der Mensch einen freien Willen?“ Wir wollten dann zum aktuellen Thema übergehen „Bleiben wir einen Leben lang derselbe?“ auf der Grundlage des Textes des Bremer Hirnforschers G. Roth. Aber, wie das Leben so spielt, es entwickelte sich etwas anderes.
   Zunächst hat sich das Gespräch um das Spannungsfeld Gesellschaft – Individuum  bewegt. In unserer Gesellschaft sind Leistung und Wohlstand dominierende Werte (orange Bewusstseinsstufe nach Clare Graves), und das spüren wir von Kindesbeinen an. In unseren Schulen geht es vorwiegend um die Förderung der  rationalen Intelligenz, und die intuitive Intelligenz bleibt auf der Strecke. Letztere beinhaltet auch Kritikfähigkeit, und die ist wenig gefragt. Was unsere Gesellschaft braucht, sind angepasste, leistungsbereite und konsumorientierte Bürger. Intuitive Intelligenz, Orientierung an den in der Tiefe des Bewusstseins anwesenden Werten, wer kennt das schon? –  „Treue zu sich selbst“ und „Leben aus dem Herzen“  waren Stichpunkte in unserer Diskussion. Aber auch die Relikte von magischem und mythischem Denken in unserer aufgeklärten Gesellschaft.
  Das Gespräch war bunt und lebendig. Hier stellt sich die Frage, ob wir der Diskussion freien Lauf geben sollten oder immer wieder zu unserem Thema zurückkommen sollten. Hören wir dazu Angela:
 Lass uns nicht an Ruhm und Ehre anderer Autoren hängen bleiben, wenn wir begreifen, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt und sie immer kontextabhängig sind, also ein sowohl – als auch- Denken nötig ist, müssen wir uns vor allem in dieser Offenheit üben. Für den einen ist das Klopfen auf dem Tisch, das Jetzt und Hier dran, als seine Ausdrucksmöglichkeit, während der andere das Bedürfnis nach einem langen tiefen mmmh hat und der nächste nach absoluter Stille……Soll Kreativität und mehr Flexibilität im Geiste aus unseren Treffen hervorgehen, ist es nicht wichtig, am Ende mit der Meinung nach Hause zu gehen, ich hab Recht behalten, oder habe die Anderen überzeugt. Ergebnisoffen und gleichzeitig themenzentriert nach Plan…., lass uns den Raum dazwischen aufsuchen …und zulassen !

Ergebnisoffen und themenzentriert – einverstanden.                                                       
Mehrere Wahrheiten? Nicht einverstanden. Mehrere Meinungen, ja! Das ist das Dilemma unserer pluralistischen Gesellschaft! Aber nur eine „absolute“ Wahrheit. Und der können wir uns nähern, indem  rationale Information,  Diskussion und Erkenntnis ergänzt werden durch Reflektion, Abstraktion, Transzendenz und Integration. Aber das will geübt werden, vorausgesetzt wir sind motiviert. Oder wir verharren in unserer tristen Mittelmäßigkeit.  

Unsere Philrunde wurde diesmal durch Besuch aus Bremen abgerundet. Adam Zablocki, Philosoph aus Bremen, deutsch-polnischer Herkunft, kam eigens angereist, um an unserer Philrunde teilzunehmen. Hören wir etwas von seinem persönlichen philosophischen Ansatz und seine Eindrücken von uns:

Meine Reflexionen als Gast bei der Philrunde:
Meine Reise nach Melle war u.a. eines von meinen „Feldforschungs“- Projekten.Ich bin immer fasziniert mit Menschen zu sein, die sich nicht über die Banalitäten des Lebens austauschen möchten, sondern über das, was für sie wesentlich ist... - damit kommen sie dem Ursprung der Philosophie näher, die z.B. im antiken  Griechenland viel mehr lebensbezogen war, mit Ethik und Psychologie verschmolzen... z.B. Seneca:
„Die Philosophie lehrt handeln und nicht reden.“ Oder Plato, der die Philosophie als „Fürsorge für die Seele“ bezeichnete.
Ein paar von meinen Forschungsthemen sind:
Kollektive Autopoiese also Selbstregulationstendenzen in der Gruppe und die Erforschung und Anwendung von Prinzipien, die Kongruenz, Synergie, Kreativität, Potentialität... in der Gruppe stärken;
Vertikale Hermeneutik (V.H.) - wie sich die Bedeutungsebenen ineinander verschachteln und aufeinander aufbauen - das Subjekt interpretiert und gibt damit den Phänomenen Bedeutung und Wert, daher wendet sich die V.H. dem Geheimnis der Subjektivität zu und entdeckt, dass rationale Interpretationen nur eine dünne Schicht im menschlichen Wahrnehmungs-/Interpretations-Spektrum sind ( es kann sein, dass ein Moment für uns enormen Wert hat, was für uns aber nicht rational begründbar ist).
Die V.H. grenzt sich nicht von der herkömmlichen Hermeneutik ab, sondern integriert und erweitert diese. In ihr geht es nicht primär um Interpretationen von Texten, Kunstobjekten und Ereignissen, sondern um das, worauf die ganze Schöpfung hin-deutet - auf den höchsten Wert.
In der Gruppe habe ich vor allem auf die energetischen Phänomene geachtet; die rationalen Themen (Monismus, Dualität, Materialismus...) waren für mich nur wie ein Vorwand dem Selbst-Verständnis den Weg offen zu halten. Und obwohl der ganze Austausch in einem konventionellen Beziehungs- und Kommunikations-Raum stattfand, war es für mich sehr interessant zu erleben wie sich die ganze Gruppendynamik mit der Zeit in Richtung mehr Achtsamkeit, Leichtigkeit, Neugierde, Intimität... bewegte. Das zeugt eindeutig von der Potenzialität, die in der Gruppe besteht.
Es ist wichtig zu verstehen, dass alle unsere Aussagen über philosophische Themen, über das Leben... keine Aussagen sind über die Phänomene sondern über uns selbst. Das sind alles unsere Meinungen also Interpretationen. Unsere Interpretationen spiegeln lediglich momentane Bewusstseinszustände, also die Bewusstseinsebene, die aktuell jedem zur Verfügung steht.
Der Erfolg der Philrunde besteht nicht darin, die gleiche Meinung zu haben, sondern in einem erfolgreichen Prozess der Wahrheit näher zu kommen. Die Alten wussten immer schon: „Einheit, Dreiheit, das sind Namen, Namen aber sind Schall und Rauch.“ (Areopagita)
Wenn ich eine Position einnehme, in der ich es „besser weiß“ als die anderen, habe ich meinen Forscherstatus verloren, ich bin auf einer Ebene eingefroren... daher glaube ich, dass es äußerst wichtig ist, die Zeit der Begegnung zu nutzen, um sein eigenes Wahrnehmungs- und Interpretations-Organ zu reflektieren und zu befreien von eingefleischten Neigungen - also zu kultivieren.
In der konventionellen Welt haben wir den Zugang zu unserer Seele verloren. Sie wurde wie C.G.Jung sagt „zum Abfallhaufen für moralischen Kehricht“ reduziert. Durch Abhängigkeitsstrukturen und Angst „nicht dazuzugehören“ (Heteronomie) haben wir uns von unserer inneren Steuerung entfernt.
Um das neue post-konventionelle Kommunikations-Paradigma zu leben, ist es fundamental wichtig die eigene Kongruenz - also Übereinstimmung mit sich selbst, mit der eigenen Seele, den eigenen Gefühlen... zu praktizieren. Das Bestreben die eigene Kongruenz zu pflegen ist die Basis um Gruppen-Kongruenz zu erfahren.

Flügelschlag der Seele:
Die Philosophie ist nicht primär eine Ansammlung von Theorien, sondern die Kunst mit dem Leben umzugehen - also die Weisheit. Das Wort „Theorie“ kommt von dem griech. Begriff theoria und bedeutet Anschauung, für Aristoteles ist es „eine beglückende Wahrnehmung“. Die Buddhisten sagen, dass die Buddhas das Leben so sehen wie es ist. (theoria)
Wenn Plato „Erstaunen ... als Anfang der Philosophie“ bezeichnet, geht es hier nicht um eine Kopfgymnastik, sondern um radikal neue Betrachtung, neue Wahr-Nehmung des Lebens, ... also das Verlassen der konventionellen „Höhle“. (Höhlengleichnis)

Wie können wir Dir Leben begegnen?
Wie können wir uns im Leben, in unserem Kreise begegnen?
Je näher wir dem Menschen in uns kommen, desto mehr können wir den Menschen in anderen sehen. Da, wo sich Menschen begegnen kann ein Spannungsfeld entstehen... wenn wir die Spannung als Problem sehen, dann haben wir einfach ein Problem, wenn wir sie aber als Chance sehen, als Möglichkeit unseren eigenen Umgang mit dem Leben zu verfeinern, dann sind wir schon im Lernprozess, und darum geht's.“

Vorschau zum 3. Mai 2013: Hannah Arendt
Text: Roswitha Pentzek

„Der einzige Sinn der Politik ist Freiheit.“ Nach Hannah Arendt haben Politiker einer Demokratie die Aufgabe, „für ein Leben in Menschenwürde, Gerechtigkeit und Freiheit einzutreten“ - und zwar für alle Menschen - und auch danach zu handeln. „Macht sich der Mensch aber zum gottähnlichen Herrn des Daseins wird er kein WELT-erschaffendes sondern ein WELT-zerstörendes Wesen", heißt es bei ihr an anderer Stelle. Und unserer Politik-verdrossenen Gesellschaft hält sie vor:„jeder zum Denken befähigte Mensch hat die Pflicht, politisch zu handeln!“ „ Das Politische“, sagt Arendt in ihrem Werk Vita Activa, „gehört nicht zum Wesen des Menschen“. Vielmehr sei das Politische außerhalb des einzelnen Menschen, das dadurch entstehe, dass eine Pluralität von Menschen miteinander in Beziehung trete.

Das könnten ganz aktuelle Überlegungen sein, wenn wir nicht wüssten, dass die Politologin, Journalistin und Philosophin 1906 in Hannover geboren wurde und 1975 in New York starb.
Im Wahljahr 2013 möchte ich an das Denken der philosophischen Politologin (so nannte sie sich selber) erinnern, denn „nichts ist flüchtiger als menschliche Worte und Taten;  wenn sie nicht erinnert werden, überleben sie kaum den Augenblick des Vollzugs.“ (H. Arendt, „Denken ohne Geländer“)