Nachlese 1.2.2013
Hirnforschung und
Willensfreiheit
(Text: Christian Brehmer)
Wie
erwartet gab es eine lebendige, mitunter auch heftige Diskussion. Denn mit
diesem Thema rühren wir an das Weltbild
unserer Zivilisation. Unser Weltbild ist materiewissenschaftlich begründet.
Die so genannte Naturwissenschaft ist, genau genommen, eine Materiewissenschaft:
Für sie gibt es nur die sich selbst organisierende Materie, und das, was wir als Geist
bezeichnen, hat sich aus der Materie heraus entwickelt und ist abhängig von ihr
(Monismus).
Die Natur aber ist eine Ganzheit. Sie ist
Materie und Bewusstsein, die miteinander interagieren (dualistischer
Interaktionismus). Wenn z.B. ein Lebewesen stirbt – sich das Bewusstsein zurückzieht –
unterliegt die Materie (der Körper) dem
Zerfall. Also sind Materie und Bewusstsein zwei unterschiedliche, im lebenden
Organismus mit einander interagierende Substanzen. Auch die Fähigkeit zur
Selbstorganisation der Materie ist
substanziell etwas anderes als die Materie selbst.
Für die Materiewissenschaft gibt es kein
substanzielles Bewusstsein, denn es
lässt sich nicht mit ihren Methoden nachweisen. Diese methodische Beschränkung
ist durchaus erfolgreich in ihrem Bereich. (Unser materieller Wohlstand beruht
zum Teil auf dieser Methode.) Sie wird
aber der Ganzheit der Natur nicht gerecht. Das führen uns die eklatanten
Verwerfungen in unserer Gesellschaft und auf unserem Planeten drastisch vor
Augen. Kein Wunder, wenn nur die Materie erforscht und das Bewusstsein wird
negiert wird.
Auf diesen Hintergrund ist – gemäß dem Verfasser
dieser Zeilen – der Text aus dem Buch „Hirnforschung und Willensfreiheit“ (ed.
Suhrkamp 2387; Frankf. 2004) zu verstehen, mit dem wir uns am 1.2. befasst
haben. Da sagt der Neurophysiologe Wolf Singer S. 34: „wir rechnen uns zu den
Organismen, die ihr In-der-Welt-Sein einem kontinuierlichen evolutionären
Prozess verdanken“. Genauso wie man nicht fragt, woher die Fähigkeit zur
Selbstorganisation der Materie kommt, so fragt Singer nicht, warum es zu
diesem kontinuierlichen evolutionären Prozess kommt und was sie antreibt.
Denn diese Fragen lassen sich mit materiewissenschaftlichen Methoden nicht beantworten.
Nach Singer lassen sich psychische Vorgänge
wie „Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und
Entscheiden und schließlich die Fähigkeit Emotionen zu haben im Sinne kausaler
Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.“ Kausale Verursachung? Sind
wir Roboter? Wer oder was verursacht denn die neuronalen Prozesse? Woher kommt
es denn dass umgekehrt psychische Vorgänge körperliche Prozesse verursachen?
Mittlerweile geht man z.B. davon aus, dass die Mehrzahl körperlicher
Krankheiten psychosomatischen Ursprungs sind.
Ja,
die Philosophen stellen den Materiewissenschaftlern peinliche Fragen!
Die
Annahme, dass unbewusste neuronale Prozesse psychisches Erleben
bestimmen, wird durch empirische Beobachtungen (B. Libet) bestätigt: passiv-psychisches
Erleben hinkt den neuronalen Vorgängen zeitlich hinterher. Handelt es sich aber
um aktiv-psychische Vorgänge (willentliche), so belegen empirische Erhebungen (J.
Eccles) genau das Gegenteil: neuronale Vorgänge hinken der bewussten
Entscheidung hinterher.
Ein Beleg für Willensfreiheit? Nur bedingt,
denn auch unsere willentlichen Entscheidungen sind weitgehend konditioniert (G.
Roth). Doch wir können uns von unseren Konditionierungen durch Selbstreflexion
stufenweise befreien. Damit wächst der Grad an Willensfreiheit. Richtet sich
die Kraft der Selbstreflexion auf sich selbst (übergegenständliche Meditation)
und werden alle Bewusstseinsinhalte transzendiert, tritt ein Zustand reinen Bewusstseins
ein (R.K. Wallace), aus dem, wenn stabilisiert, freie Entscheidungen getroffen
werden können. Nur der befreite Mensch hat Willensfreiheit. Sein Denken und
Handeln ist im Einklang mit der Natur.
Zum Abschluss unserer Gesprächsrunden, gehen
wir ja immer noch ein paar Minuten in die Stille. Wir lassen alle Informationen
und Auseinandersetzungen noch einmal in uns Revue passieren: reflektieren und –
vielleicht – abstrahieren , transzendieren, um dann alles später zu
integrieren. Das wäre Wachstum in Richtung Willensfreiheit – und Lebensfreude! Praktische Philosophie!
Vorschau
5. April
Verständlich,
das Thema hat Wellen von Emotionen ausgelöst. Das brachte Lebendigkeit in
unsere Runde, aber auch mitunter Unsachlichkeit. Nun, wir können ja versuchen,
uns unsere Gesprächsregeln stets auf´s Neue zu vergegenwärtigen.
Das
Thema war keineswegs ausdiskutiert, und es kam der Wunsch auf, es am 5.4. noch
mal aufzugreifen. Auch der obige Text, die „Nachlese“, ist eigentlich mehr eine
Gegendarstellung und lädt zu Kommentaren ein, falls es nicht schon dazu im Blog
gekommen ist. (Dazu sind alle eingeladen, auch die, die nicht an der Runde
persönlich teilnehmen.)
In diesem Zusammenhang haben wir am 1.2.
eine Kopie ausgehändigt bekommen aus Die Welt: „Bleiben wir ein Leben
lang derselbe? Nicht nur für Juristen ist es ein spannende Frage, ob der Mensch
verantwortlich für etwas ist, was er vor Jahrzehnten getan hat“. Hier stellt
der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth den gängigen Schuldbegriff infrage. Können
wir überhaupt entgegen unserer Persönlichkeit handeln? Die Kopie wurde in
unsere Rundmail eingescannt, für diejenigen, die beim 1.2. nicht dabei waren.