Mittwoch, 13. März 2013



Nachlese 1.2.2013
Hirnforschung und Willensfreiheit                                          (Text: Christian Brehmer)       
Wie erwartet gab es eine lebendige, mitunter auch heftige Diskussion. Denn mit diesem Thema rühren wir an das  Weltbild unserer Zivilisation. Unser Weltbild ist materiewissenschaftlich begründet. Die so genannte Naturwissenschaft ist, genau genommen, eine Materiewissenschaft: Für sie gibt es nur die sich selbst organisierende  Materie, und das, was wir als Geist bezeichnen, hat sich aus der Materie heraus entwickelt und ist abhängig von ihr (Monismus).
   Die Natur aber ist eine Ganzheit. Sie ist Materie und Bewusstsein, die miteinander interagieren (dualistischer Interaktionismus). Wenn z.B. ein Lebewesen stirbt –  sich das Bewusstsein zurückzieht – unterliegt  die Materie (der Körper) dem Zerfall. Also sind Materie und Bewusstsein zwei unterschiedliche, im lebenden Organismus mit einander interagierende Substanzen. Auch die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Materie ist  substanziell etwas anderes als die Materie selbst.
   Für die Materiewissenschaft gibt es kein substanzielles Bewusstsein,  denn es lässt sich nicht mit ihren Methoden nachweisen. Diese methodische Beschränkung ist durchaus erfolgreich in ihrem Bereich. (Unser materieller Wohlstand beruht zum  Teil auf dieser Methode.) Sie wird aber der Ganzheit der Natur nicht gerecht. Das führen uns die eklatanten Verwerfungen in unserer Gesellschaft und auf unserem Planeten drastisch vor Augen. Kein Wunder, wenn nur die Materie erforscht und das Bewusstsein wird negiert wird.
   Auf diesen Hintergrund ist – gemäß dem Verfasser dieser Zeilen – der Text aus dem Buch „Hirnforschung und Willensfreiheit“ (ed. Suhrkamp 2387; Frankf. 2004) zu verstehen, mit dem wir uns am 1.2. befasst haben. Da sagt der Neurophysiologe Wolf Singer S. 34: „wir rechnen uns zu den Organismen, die ihr In-der-Welt-Sein einem kontinuierlichen evolutionären Prozess verdanken“. Genauso wie man nicht fragt, woher die Fähigkeit zur Selbstorganisation der Materie kommt, so fragt Singer nicht, warum es zu diesem kontinuierlichen evolutionären Prozess kommt und was sie antreibt. Denn diese Fragen lassen sich mit materiewissenschaftlichen Methoden nicht beantworten.
   Nach Singer lassen sich psychische Vorgänge wie „Wahrnehmen, Vorstellen, Erinnern und Vergessen, Bewerten, Planen und Entscheiden und schließlich die Fähigkeit Emotionen zu haben im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen.“ Kausale Verursachung? Sind wir Roboter? Wer oder was verursacht denn die neuronalen Prozesse? Woher kommt es denn dass umgekehrt psychische Vorgänge körperliche Prozesse verursachen? Mittlerweile geht man z.B. davon aus, dass die Mehrzahl körperlicher Krankheiten psychosomatischen Ursprungs sind.
    
             Ja, die Philosophen stellen den Materiewissenschaftlern peinliche Fragen!

Die Annahme, dass unbewusste neuronale Prozesse psychisches Erleben bestimmen, wird durch empirische Beobachtungen (B. Libet) bestätigt: passiv-psychisches Erleben hinkt den neuronalen Vorgängen zeitlich hinterher. Handelt es sich aber um aktiv-psychische Vorgänge (willentliche), so belegen empirische Erhebungen (J. Eccles) genau das Gegenteil: neuronale Vorgänge hinken der bewussten Entscheidung  hinterher.
   Ein Beleg für Willensfreiheit? Nur bedingt, denn auch unsere willentlichen Entscheidungen sind weitgehend konditioniert (G. Roth). Doch wir können uns von unseren Konditionierungen durch Selbstreflexion stufenweise befreien. Damit wächst der Grad an Willensfreiheit. Richtet sich die Kraft der Selbstreflexion auf sich selbst (übergegenständliche Meditation) und werden alle Bewusstseinsinhalte transzendiert, tritt ein Zustand reinen Bewusstseins ein (R.K. Wallace), aus dem, wenn stabilisiert, freie Entscheidungen getroffen werden können. Nur der befreite Mensch hat Willensfreiheit. Sein Denken und Handeln ist im Einklang mit der Natur.
 
  Zum Abschluss unserer Gesprächsrunden, gehen wir ja immer noch ein paar Minuten in die Stille. Wir lassen alle Informationen und Auseinandersetzungen noch einmal in uns Revue passieren: reflektieren und – vielleicht – abstrahieren , transzendieren, um dann alles später zu integrieren. Das wäre Wachstum in Richtung Willensfreiheit – und Lebensfreude!  Praktische Philosophie! 

Vorschau 5. April
Verständlich, das Thema hat Wellen von Emotionen ausgelöst. Das brachte Lebendigkeit in unsere Runde, aber auch mitunter Unsachlichkeit. Nun, wir können ja versuchen, uns unsere Gesprächsregeln stets auf´s Neue zu vergegenwärtigen.
   Das Thema war keineswegs ausdiskutiert, und es kam der Wunsch auf, es am 5.4. noch mal aufzugreifen. Auch der obige Text, die „Nachlese“, ist eigentlich mehr eine Gegendarstellung und lädt zu Kommentaren ein, falls es nicht schon dazu im Blog gekommen ist. (Dazu sind alle eingeladen, auch die, die nicht an der Runde persönlich teilnehmen.)
    In diesem Zusammenhang haben wir am 1.2. eine Kopie ausgehändigt bekommen aus Die Welt: „Bleiben wir ein Leben lang derselbe? Nicht nur für Juristen ist es ein spannende Frage, ob der Mensch verantwortlich für etwas ist, was er vor Jahrzehnten getan hat“. Hier stellt der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth den gängigen Schuldbegriff infrage. Können wir überhaupt entgegen unserer Persönlichkeit handeln? Die Kopie wurde in unsere Rundmail eingescannt, für diejenigen, die beim 1.2. nicht dabei waren.